Sonntag, 4. August 2013

Der Falke, Rumi

Wenn du einen weißen Falken
                    einem alten Weibe gibst,
schneidet sie ihm ihre Klauen,
                    weil sie denkt, es tät ihm gut.
Jene Klauen, die der Grund sind für sein Werk und seine Jagd,
                    schneidet dieses blinde Weiblein
blindlings ab und fragt ihn dann:
                    "Sag mal, wo war deine Mutter,
daß so lang die Nägel wuchsen?"
                    So beschneidet sie die Klauen,
Schnabel und die Federn auch -
                    ach, die dreckige, die Alte, 
meinte es ja wirklich gut!
                     Kochte sie ihm Nudelsuppe,
Doch er aß ganz wenig nur,
                     und da wurde sie sehr zornig,
dachte nicht an Freundlichkeit:
                    "Hab ich dir doch eine solche 
Speise liebevoll gekocht,
                    und du tust so stolz und mächtig
und verschmähst das Essen nun!
                    Du verdientest wirklich Strafe, 
Plage und Heimsuchung hart -
                    denn man kann beim besten Willen
dir ja gar nichts gutes tun!"
                    Dann gibt sie ihm noch die Brühe:
los, nun komm und trinke jetzt.
                    Wenn du schon die feinen Nudeln
überhaupt nicht essen willst!"
                    Doch der Falk mag keine Brühe,
denn er ist sie nicht gewohnt,
                    und das alte Weib wird wütend,
und ihr Ärger wächst und wächst;
                    schließlich gießt die kochend heiße
Brühe sie ihm überm Kopf -
                    ach da fallen alle Federn
Ihm vom Haupt, er wird ganz kahl,
                    und aus seinen Augen tropfen
Tränen ihm aus heißem Schmerz, 
                    und er denkt jetzt an die Güte,
die sein König ihm erzeigt'...

Doch dann sagt der Falke: "Wenn auch
                    diese Alte mich versehrt,
hat sie doch mein Licht, mein Wissen,
                    die Geduld mir nicht verzehrt!"

Rumi (Übersetzung Annemarie Schimmel)